1. Die Urgemeinde von Jerusalem
Die Nachrichten von Erscheinungen des Auferstandenen in
Galiläa (Mk 14,28; 16,7) zeigen, dass Jesus dort eine starke Gruppe der
Anhänger besaß. Nach Auskunft der Apg bildete Jerusalem, wo sich das Heilswerk
Christi vollendet hat, das Zentrum der neuen Jesusbewegung. Die religiöse
Tradition dieser Stadt, Rivalitäten zwischen Pharisäern und Sadduzäern, und
auch die Asketengruppe von Qumran schufen eine Atmosphäre, welche auf die
werdende Kirche Einfluss ausübte. Hier sammelte sich nach der Katastrophe von
Golgota die versprengte Schar der Jesus Jünger, und sie verlieh mit der
Ergänzung des Zwölferkreises (Apg 1,15-26) ihrem Anspruch auf die endzeitliche
Sammlung Israels Ausdruck. Israels Geschichte erscheint so als Hintergrund der
Gemeinde Jesu, die nun den Weg in die Geschichte antrat.
Erweiterung des
Jüngerkreises
Mit dem Pfingstgeschehen (Apg 2,1-13) trat die neue
Glaubensgemeinschaft an die Öffentlichkeit. Auf die Predigt des Petrus hin (Apg
2,14-36) stieg die Zahl der Gläubigen sprunghaft an (Apg 2,37-42).
Zahlenangaben (Apg 4,4) dienen nicht statistischen Zwecken, sondern die
Wirksamkeit Gottes. Die Verkündigung von Jesus als dem Messias richtete sich in
erster Linie an Israel, das Volk endzeitlicher Heilserwartung. Die sehnsüchtige
Hoffnung auf eine baldige Wiederkunft des erhöhten Herrn, gesteigert durch die
erfahrene Wende im Jesusgeschehen, äußerte sich in dem Bestreben, vor allem die
Israeliten zum Glauben an Jesus, den Messias, zu bewegen. Der Gebrauch
verschiedener Würdetitel für Jesus (Menschensohn), macht deutlich, dass der
Jesusglaube eine beachtliche Vielfalt aufwies und den Schluss auf
situationsgebundene Gruppen von Gläubigen - eine häufige Selbstbezeichnung - zulässt.
Erscheinungsbild
Im Gegensatz zur separatistischen Gemeinde von Qumran blieb
die Gemeinschaft der Christusgläubigen zunächst Israel verbunden, obwohl sie
als religiöse Gruppe gleich einer ’AIRESIS, einer Sonderrichtung im jüdischen
Umfeld, erschien. Tatsächlich hielt sie am mosaischen Gesetz und am Tempel
fest, so dass nach außen kein Bruch sichtbar wurde. Andererseits bestand man
mit Nachdruck auf der Glaubensaussage, dass allein in Jesus von Nazaret dem
Menschen Heil eröffnet sei (Apg 4,12). Diesem Befund entspricht die Schilderung
der Urgemeinde in der Apg, wonach die Gläubigen an der Lehre der Apostel
festhielten und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten
(Apg 2,42). Wie die Schrift-gelehrten das Gesetz auslegten, so verkündigten die
Apostel das Heilswirken Jesu im Licht des Ostergeschehens, und sie schufen so
jene formelhaften Wendungen, die als Keime der Überlieferung und künftigen
Schrift gelten.
Die Elemente des urchristlichen Gottesdienstes, denen die
Taufe als Aufnahmeritus vorausging (Apg 2,38; Mk 16,16), veranschaulichen den
Zusammenhang mit der überlieferten jüdischen Tradition, obwohl sich darin schon
Neues abzeichnet. Mit dem Brotbrechen eröffnete bekanntlich im Judentum der
Hausvater die Mahlzeit, und dieses Wort diente nun als Bezeichnung für die
Mahlfeier der Gläubigen.
Offenkundig im eucharistischen Sinn sprach Paulus vom Brot,
das wir brechen (l Kor 10,16), und er berief sich in seiner Beschreibung des
Herrenmahles auf eine Offenbarung vom Herrn (l Kor 11,23). Diese sakrale
Mahlzeit nahm nicht nur die Tradition der Tischgemeinschaft mit dem irdischen
Jesus auf, sie war zugleich Gedächtnisfeier im Sinne der Einsetzungsberichte
(Mt 26,26-28), wobei auch nach dem Zeugnis von Did. 9f ein Sättigungsmahl (Agape)
vorausging.
Offensichtlich versammelte man sich dabei häuserweise und
verwirklichte so Kirche in Hausgemeinschaften. Der alte Gebetsruf: Marana-tha
(l Kor 16,22; Did. 10,6; Offb 22,20): Unser Herr, komm, bezeugt den Glauben an
das Kommen des Herrn in der Eucharistie wie in der anstehenden Parusie. Schriftlesung,
Psalmen und Gebete pflegte man in gewohnter Weise und schuf so den
grundlegenden Rahmen der Liturgie.
Die Gemeinschaft (Koinonia) des Gottesdienstes wirkte sich
nach Auskunft der Apg auf die Lebensverhältnisse der Urgemeinde aus: Alle, die
gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie
verkauften ihr Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig
hatte (2,44). Auf der Grundlage des gemeinsamen Glaubens schärfte sich das Bewusstsein
gegenseitiger Verantwortung.
Schwerlich handelte es sich dabei um eine kollektive
Gütergemeinschaft, wie bei den Essenern von Qumran, eher um ein freiwilliges
oder radikales Teilen zugunsten der Armen, deren Zahl sich durch den Zustrom
der Gläubigen aus Galiläa gesteigert hatte (1,11; 2,7). In einer Stimmung und
im Blick auf die erwartete Wiederkunft Christi war die Gemeinde der Gläubigen
ein Herz und eine Seele (4,32).
Die Ordnung in der
Gemeinde
Die Glaubenshaltung der Urgemeinde verdeckt nicht die
Tatsache ihrer Ordnung. Schon aus dem Gebrauch verfassungsrechtlicher Begriffe
wie Dienst (Apg 1,25) oder Kleros
(Los, Anteil) (Apg 1,17; l Petr 5,3) erhellt ein Selbstverständnis, wie sie
eben auch in der jüdischen Synagoge anzutreffen war. Andererseits wusste man
sich dem Beispiel Jesu verpflichtet und verstand jedes Amt als Dienst (Mk 9,35;
10,43f).
Vom Herrn selbst berufen, übten in der Urgemeinde zunächst
die Zwölf mit Petrus an der Spitze Leitungsgewalt aus. Als erster Zeuge des
Ostergeschehens trat Petrus verantwortlich unter den Brüdern auf, z.B. bei der
Nachwahl des Matthias (Apg 1,15-26) und der Geistsendung (Apg 2,14-41). Von ihm
ging die Initiative zur Mission unter dem palästinischen Judentum (Gal 2,8),
aber auch bei den Heiden (Apg 10,1-11) aus, eine Entwicklung, die offenbar die
jüdischen Behörden beunruhigte, so dass es erstmals zu Zwangsmaßnahmen gegen
die Apostel kam (Apg 4,1-22; 5,17-42). Petrus galt als entscheidende Autorität
der Jerusalemer Urgemeinde, die auch Paulus nach Gal 1,18 aufsuchte. Die
Tätigkeit des Erstapostels, dessen Arbeitsfeld sich bald über Jerusalem hinaus
erweiterte, währte nach einigen Nachrichten in Jerusalem 12 Jahre. Das Vorgehen
des römischen Favoriten Herodes Agrippa I. (37-44), der im Jahre 41 den Zebedaiden
Jakobus enthaupten ließ, führte auch zur Verhaftung des Petrus; auf wunderbare
Weise aus dem Kerker befreit, begab er sich an einen anderen Ort (Apg 12,17).
Schon um diese Zeit war die Leitung der Jerusalemer
Gemeinde auf den Herrenbruder Jakobus übergegangen, aufgrund seiner Verwandtschaft
mit der Familie Jesu. Seine Gesetzesfrömmigkeit schützte möglicherweise die
Gemeinde der Gläubigen vor einem endgültigen Zugriff jüdischer Behörden.
Paulus, der ihn nach Gal 1,19 bereits bei seinem ersten Besuch gesehen hatte,
traf ihn erneut als Gesandter der antiochenischen Gemeinde bei den
Verhandlungen über die Heidenmission, zusammen mit Kephas und Johannes. Diesen
drei Säulen (Gal 2,9) in der Leitung der Jerusalemer Gemeinde war ein Kollegium
von Presbytern beigegeben (Apg 11,30; 15,2; 20,17), offensichtlich nach dem Vorbild
der Synagogenverfassung.
Den Ältesten zukommen wurde, seit dem Zurücktreten des
Zwölferkreises, organisatorische Aufgaben einschließlich der Sorge um die
Bedrängten (l Petr 5,1-4; Jak 5,14). Im Übrigen wurde bei anstehenden
Entscheidungen die ganze Gemeinde eingeschaltet, so etwa bei der Bestellung der
Sieben (Apg 6,2.5), oder auch im Streit wegen der Heidenmission (Apg 15,22; Gal
2,9). Ein Konflikt um die Zuständigkeit in Fragen der Leitung brach nicht auf,
wie die Einmütigkeit bei den Beschlüssen beweist.
Die Hellenisten
Neben den aramäisch sprechenden Hebräern gab es in
Jerusalem Gläubige griechischer Zunge, die sog. Hellenisten. Die
Benachteiligung ihrer Witwen bei der täglichen Versorgung (Apg 6,1), führte zu
einer Beschwerde, die man spontan mit der Bestellung von 7 Männern löste. Es
entstand ein Konflikt legte, in dem die Gläubigen aus Kreisen der
Diasporasynagoge wollten, eine missionarische Öffnung über Israel hinaus. Am
Beispiel des Stephanus, der den Tempel nicht mehr als Stätte des Heils
anerkannte (Apg 6,13), wurde der Unterschied zu den Hebräern sichtbar. Sie
wollten nämlich nicht, dass die Verkündigung des endzeitlichen Heils mit
Jerusalem zu verknüpfen. Die Bestellung der Sieben - alle mit griechischen
Namen - zur Versorgung der Hellenisten erfolgte also nicht in Unterordnung
unter die Ältesten; sie repräsentierten vielmehr jene Gläubigen, die zwar als
hellenisierte Juden das Zeichen der Beschneidung achteten, aber in ihrer
Verkündigung das Evangelium über die Grenzen Israels hinaustrugen. Die
ausbrechende Verfolgung nach dem Martyrium des Stephanus zersprengte diesen
Kreis, der nun aus Jerusalem weichen musste.
Die Urgemeinde bot kein einheitliches Bild. Soziologisch
von unterschiedlicher Herkunft, nahmen die ersten Gläubigen Jesu Botschaft
entsprechend ihren religiösen Anschauungen auf, wobei sich frühzeitig Konflikte
abzeichneten, vor allem in der Wertung des Tempels und des Gesetzes. Zur
Bewältigung der aufbrechenden Probleme und der anstehenden Aufgaben schuf man
über den Kreis der Zwölf hinaus nach Bedarf Gemein-deämter, die eine
Beteiligung der Gläubigen bei wichtigen Entscheidungen nicht ausschlössen.
In Erwartung der Parusie strahlte die Urgemeinde eine
starke Dynamik aus, die vor allem ihre missionarische Verkündig-ung beflügelte
und zugleich den Konflikt mit dem Judentum in eine universale Verkündigung umsetzte.
Die Isolation des
Judenchristentums
Die Anerkenntnis eines gesetzesfreien Glaubens auf dem sog.
Apostelkonzil (um 48/49) leitete für die Hebräer in Jerusalem eine zunehmende
Isolation ein. Unter Führung des Herrenbruders Jakobus blieben sie der
jüdischen Tradition treu und so Israel auch verbunden. Von diesen Gläubigen
jüdischer Observanz wurde die Christusbotschaft in den aramäisch sprechenden
Osten getragen, und es entstanden dort Gemeinden eigener Struktur, die trotz
Einflusses synkretistischer Strömungen lange Bestand hatten. Das Ansehen Jakobus'
des Gerechten vermochte aber letztlich nicht den Konflikt mit der religiösen
Autorität des Judentums zu hindern; als Zeuge der Messianität Jesu [Hegesipp, bei Eusebios, h.e. II 23,18] wurde er im Jahre 62 auf Betreiben des
Hohenpriesters Ananos vom Dach des Tempels gestürzt und erschlagen. Nicht
zuletzt diese Erfahrung veranlasste wohl die Christengemeinde Jerusalems dazu,
den Aufstand gegen die römische Besatzungsmacht nicht zur eigenen Sache zu
erheben; sie wanderte großteils ins Ostjordanland aus [Eusebios, h.e.III 5,3]. Wahrscheinlich
stehen auch Nachrichten vom Aufenthalt des Apostels Johannes in Ephesos und des
Evangelisten Philippus mit seinen vier prophetisch begabten Töchtern (Apg 21,9)
in Hierapolis [Eusebios, h.e. III
31,4] damit im Zusammenhang. Ein Teil
der Christengemeinde betrachtete die Eroberung Jerusalems im Jahre 70 als
Gottesgericht und kehrte wieder in die verwüstete Heimat zurück. Die Spannung
zum Judentum jedoch blieb und hat sich in der Folgezeit verschärft.
Nach dem Tode des Jakobus übernahm ein Vetter Jesu, Simon
bar Klopas, die Leitung der Jerusalemer Gemeinde und gesicherte so den
Zusammenhang mit dem Ursprung. Das Prinzip der Erblichkeit räumte den
Verwandten Jesu eine führende Rolle ein, vermochte jedoch nicht, die Gefahren
zu bannen. Auseinanderstrebende Richtungen synkretistischer Art spalteten bald
das Judenchristentum. Derartige heterodoxe Gruppen bildeten sich vor allem im
Ostjordanland, wo unter der Bezeichnung Ebioniten, d.h. Arme, gesetzestreue
Gläubige Jesus als einfachen Propheten anerkannten, oder die sog. Elkesaiten
auf eigene Offenbarungen ihres Gründers setzten. In den Taufsekten, vor allem
bei den Mandäern, spielte man Johannes den Täufer gegen den Lügner Jesus aus
und entfernte sich so gleicher weise von Juden wie Christus-Gläubigen. Mit
guten Gründen hat man darauf verwiesen, dass in diesem Schmelztiegel religiöser
Strömungen die Wurzel des Gnostizismus liege.
Für das Judenchristentum verlor Jerusalem endgültig seine
Bedeutung, als im Zuge der Unterdrückung des Bar-Kochba-Aufstandes (132-135)
die Stadt zu einer römischen Kolonie wurde. Unter Todesstrafe war den Juden der
Aufenthalt in Aelia Capitolina verboten, nicht aber Gläubigen aus dem
Heidentum, die dort alsbald eine neue Gemeinde gründeten. Weggeschoben in das
Land jenseits des Jordans entfalteten die Judenchristen durchaus noch
missionarische Aktivität, wie der um 140 entstandene Dialog zwischen Jason und
Papiskos über Christus zeigt; aber der fehlende Kontakt zu heidenchristlichen
Gemeinden verschärfte trotz Anklängen in den um 170 entstandenen Kerygmata des
Petrus die Isolation, bis ihre sektiererischen Reste sich auflösten oder in
neue Strömungen, etwa den Manichäismus, hineinflossen.
No comments:
Post a Comment