Saturday, 29 June 2013

Jerusalem



1. Die Urgemeinde von Jerusalem

Die Nachrichten von Erscheinungen des Auferstandenen in Galiläa (Mk 14,28; 16,7) zeigen, dass Jesus dort eine starke Gruppe der Anhänger besaß. Nach Auskunft der Apg bildete Jerusalem, wo sich das Heilswerk Christi vollendet hat, das Zentrum der neuen Jesusbewegung. Die religiöse Tradition dieser Stadt, Rivalitäten zwischen Pharisäern und Sadduzäern, und auch die Asketengruppe von Qumran schufen eine Atmosphäre, welche auf die werdende Kirche Einfluss ausübte. Hier sammelte sich nach der Katastrophe von Golgota die versprengte Schar der Jesus Jünger, und sie verlieh mit der Ergänzung des Zwölferkreises (Apg 1,15-26) ihrem Anspruch auf die endzeitliche Sammlung Israels Ausdruck. Israels Geschichte erscheint so als Hintergrund der Gemeinde Jesu, die nun den Weg in die Geschichte antrat.

Erweiterung des Jüngerkreises

Mit dem Pfingstgeschehen (Apg 2,1-13) trat die neue Glaubensgemeinschaft an die Öffentlichkeit. Auf die Predigt des Petrus hin (Apg 2,14-36) stieg die Zahl der Gläubigen sprunghaft an (Apg 2,37-42). Zahlenangaben (Apg 4,4) dienen nicht statistischen Zwecken, sondern die Wirksamkeit Gottes. Die Verkündigung von Jesus als dem Messias richtete sich in erster Linie an Israel, das Volk endzeitlicher Heilserwartung. Die sehnsüchtige Hoffnung auf eine baldige Wiederkunft des erhöhten Herrn, gesteigert durch die erfahrene Wende im Jesusgeschehen, äußerte sich in dem Bestreben, vor allem die Israeliten zum Glauben an Jesus, den Messias, zu bewegen. Der Gebrauch verschiedener Würdetitel für Jesus (Menschensohn), macht deutlich, dass der Jesusglaube eine beachtliche Vielfalt aufwies und den Schluss auf situationsgebundene Gruppen von Gläubigen - eine häufige Selbstbezeichnung - zulässt.

Erscheinungsbild

Im Gegensatz zur separatistischen Gemeinde von Qumran blieb die Gemeinschaft der Christusgläubigen zunächst Israel verbunden, obwohl sie als religiöse Gruppe gleich einer ’AIRESIS, einer Sonderrichtung im jüdischen Umfeld, erschien. Tatsächlich hielt sie am mosaischen Gesetz und am Tempel fest, so dass nach außen kein Bruch sichtbar wurde. Andererseits bestand man mit Nachdruck auf der Glaubensaussage, dass allein in Jesus von Nazaret dem Menschen Heil eröffnet sei (Apg 4,12). Diesem Befund entspricht die Schilderung der Urgemeinde in der Apg, wonach die Gläubigen an der Lehre der Apostel festhielten und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten (Apg 2,42). Wie die Schrift-gelehrten das Gesetz auslegten, so verkündigten die Apostel das Heilswirken Jesu im Licht des Ostergeschehens, und sie schufen so jene formelhaften Wendungen, die als Keime der Überlieferung und künftigen Schrift gelten.

Die Elemente des urchristlichen Gottesdienstes, denen die Taufe als Aufnahmeritus vorausging (Apg 2,38; Mk 16,16), veranschaulichen den Zusammenhang mit der überlieferten jüdischen Tradition, obwohl sich darin schon Neues abzeichnet. Mit dem Brotbrechen eröffnete bekanntlich im Judentum der Hausvater die Mahlzeit, und dieses Wort diente nun als Bezeichnung für die Mahlfeier der Gläubigen.

Offenkundig im eucharistischen Sinn sprach Paulus vom Brot, das wir brechen (l Kor 10,16), und er berief sich in seiner Beschreibung des Herrenmahles auf eine Offenbarung vom Herrn (l Kor 11,23). Diese sakrale Mahlzeit nahm nicht nur die Tradition der Tischgemeinschaft mit dem irdischen Jesus auf, sie war zugleich Gedächtnisfeier im Sinne der Einsetzungsberichte (Mt 26,26-28), wobei auch nach dem Zeugnis von Did. 9f ein Sättigungsmahl (Agape) vorausging.

Offensichtlich versammelte man sich dabei häuserweise und verwirklichte so Kirche in Hausgemeinschaften. Der alte Gebetsruf: Marana-tha (l Kor 16,22; Did. 10,6; Offb 22,20): Unser Herr, komm, bezeugt den Glauben an das Kommen des Herrn in der Eucharistie wie in der anstehenden Parusie. Schriftlesung, Psalmen und Gebete pflegte man in gewohnter Weise und schuf so den grundlegenden Rahmen der Liturgie.

Die Gemeinschaft (Koinonia) des Gottesdienstes wirkte sich nach Auskunft der Apg auf die Lebensverhältnisse der Urgemeinde aus: Alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften ihr Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte (2,44). Auf der Grundlage des gemeinsamen Glaubens schärfte sich das Bewusstsein gegenseitiger Verantwortung.

Schwerlich handelte es sich dabei um eine kollektive Gütergemeinschaft, wie bei den Essenern von Qumran, eher um ein freiwilliges oder radikales Teilen zugunsten der Armen, deren Zahl sich durch den Zustrom der Gläubigen aus Galiläa gesteigert hatte (1,11; 2,7). In einer Stimmung und im Blick auf die erwartete Wiederkunft Christi war die Gemeinde der Gläubigen ein Herz und eine Seele (4,32).

Die Ordnung in der Gemeinde

Die Glaubenshaltung der Urgemeinde verdeckt nicht die Tatsache ihrer Ordnung. Schon aus dem Gebrauch verfassungsrechtlicher Begriffe wie Dienst (Apg 1,25) oder Kleros (Los, Anteil) (Apg 1,17; l Petr 5,3) erhellt ein Selbstverständnis, wie sie eben auch in der jüdischen Synagoge anzutreffen war. Andererseits wusste man sich dem Beispiel Jesu verpflichtet und verstand jedes Amt als Dienst (Mk 9,35; 10,43f).

Vom Herrn selbst berufen, übten in der Urgemeinde zunächst die Zwölf mit Petrus an der Spitze Leitungsgewalt aus. Als erster Zeuge des Ostergeschehens trat Petrus verantwortlich unter den Brüdern auf, z.B. bei der Nachwahl des Matthias (Apg 1,15-26) und der Geistsendung (Apg 2,14-41). Von ihm ging die Initiative zur Mission unter dem palästinischen Judentum (Gal 2,8), aber auch bei den Heiden (Apg 10,1-11) aus, eine Entwicklung, die offenbar die jüdischen Behörden beunruhigte, so dass es erstmals zu Zwangsmaßnahmen gegen die Apostel kam (Apg 4,1-22; 5,17-42). Petrus galt als entscheidende Autorität der Jerusalemer Urgemeinde, die auch Paulus nach Gal 1,18 aufsuchte. Die Tätigkeit des Erstapostels, dessen Arbeitsfeld sich bald über Jerusalem hinaus erweiterte, währte nach einigen Nachrichten in Jerusalem 12 Jahre. Das Vorgehen des römischen Favoriten Herodes Agrippa I. (37-44), der im Jahre 41 den Zebedaiden Jakobus enthaupten ließ, führte auch zur Verhaftung des Petrus; auf wunderbare Weise aus dem Kerker befreit, begab er sich an einen anderen Ort (Apg 12,17).

Schon um diese Zeit war die Leitung der Jerusalemer Gemeinde auf den Herrenbruder Jakobus übergegangen, aufgrund seiner Verwandtschaft mit der Familie Jesu. Seine Gesetzesfrömmigkeit schützte möglicherweise die Gemeinde der Gläubigen vor einem endgültigen Zugriff jüdischer Behörden. Paulus, der ihn nach Gal 1,19 bereits bei seinem ersten Besuch gesehen hatte, traf ihn erneut als Gesandter der antiochenischen Gemeinde bei den Verhandlungen über die Heidenmission, zusammen mit Kephas und Johannes. Diesen drei Säulen (Gal 2,9) in der Leitung der Jerusalemer Gemeinde war ein Kollegium von Presbytern beigegeben (Apg 11,30; 15,2; 20,17), offensicht­lich nach dem Vorbild der Synagogenverfassung.

Den Ältesten zukommen wurde, seit dem Zurücktreten des Zwölferkreises, organisatorische Aufgaben einschließlich der Sorge um die Bedrängten (l Petr 5,1-4; Jak 5,14). Im Übrigen wurde bei anstehenden Entscheidungen die ganze Gemeinde eingeschaltet, so etwa bei der Bestellung der Sieben (Apg 6,2.5), oder auch im Streit wegen der Heidenmission (Apg 15,22; Gal 2,9). Ein Konflikt um die Zuständigkeit in Fragen der Leitung brach nicht auf, wie die Einmütigkeit bei den Beschlüssen beweist.

Die Hellenisten

Neben den aramäisch sprechenden Hebräern gab es in Jerusalem Gläubige griechischer Zunge, die sog. Hellenisten. Die Benachteiligung ihrer Witwen bei der täglichen Versorgung (Apg 6,1), führte zu einer Beschwerde, die man spontan mit der Bestellung von 7 Männern löste. Es entstand ein Konflikt legte, in dem die Gläubigen aus Kreisen der Diasporasynagoge wollten, eine missionarische Öffnung über Israel hinaus. Am Beispiel des Stephanus, der den Tempel nicht mehr als Stätte des Heils anerkannte (Apg 6,13), wurde der Unterschied zu den Hebräern sichtbar. Sie wollten nämlich nicht, dass die Verkündigung des endzeitlichen Heils mit Jerusalem zu verknüpfen. Die Bestellung der Sieben - alle mit griechischen Namen - zur Versorgung der Hellenisten erfolgte also nicht in Unterordnung unter die Ältesten; sie repräsentierten vielmehr jene Gläubigen, die zwar als hellenisierte Juden das Zeichen der Beschneidung achteten, aber in ihrer Verkündigung das Evangelium über die Grenzen Israels hinaustrugen. Die ausbrechende Verfolgung nach dem Martyrium des Stephanus zersprengte diesen Kreis, der nun aus Jerusalem weichen musste.

Die Urgemeinde bot kein einheitliches Bild. Soziologisch von unterschiedlicher Herkunft, nahmen die ersten Gläubigen Jesu Botschaft entsprechend ihren religiösen Anschauungen auf, wobei sich frühzeitig Konflikte abzeichneten, vor allem in der Wertung des Tempels und des Gesetzes. Zur Bewältigung der aufbrechenden Probleme und der anstehenden Aufgaben schuf man über den Kreis der Zwölf hinaus nach Bedarf Gemein-deämter, die eine Beteiligung der Gläubigen bei wichtigen Entscheidungen nicht ausschlössen.
In Erwartung der Parusie strahlte die Urgemeinde eine starke Dynamik aus, die vor allem ihre missionarische Verkündig-ung beflügelte und zugleich den Konflikt mit dem Judentum in eine universale Verkündigung umsetzte.

Die Isolation des Judenchristentums

Die Anerkenntnis eines gesetzesfreien Glaubens auf dem sog. Apostelkonzil (um 48/49) leitete für die Hebräer in Jerusalem eine zunehmende Isolation ein. Unter Führung des Herrenbruders Jakobus blieben sie der jüdischen Tradition treu und so Israel auch verbunden. Von diesen Gläubigen jüdischer Observanz wurde die Christusbotschaft in den aramäisch sprechenden Osten getragen, und es entstanden dort Gemeinden eigener Struktur, die trotz Einflusses synkretistischer Strömungen lange Bestand hatten. Das Ansehen Jakobus' des Gerechten vermochte aber letztlich nicht den Konflikt mit der religiösen Autorität des Judentums zu hindern; als Zeuge der Messianität Jesu  [Hegesipp, bei Eusebios, h.e. II 23,18]  wurde er im Jahre 62 auf Betreiben des Hohenpriesters Ananos vom Dach des Tempels gestürzt und erschlagen. Nicht zuletzt diese Erfahrung veranlasste wohl die Christengemeinde Jerusalems dazu, den Aufstand gegen die römische Besatzungsmacht nicht zur eigenen Sache zu erheben; sie wanderte großteils ins Ostjordanland aus [Eusebios, h.e.III 5,3]. Wahrscheinlich stehen auch Nachrichten vom Aufenthalt des Apostels Johannes in Ephesos und des Evangelisten Philippus mit seinen vier prophetisch begabten Töchtern (Apg 21,9) in Hierapolis  [Eusebios, h.e. III 31,4]  damit im Zusammenhang. Ein Teil der Christengemeinde betrachtete die Eroberung Jerusalems im Jahre 70 als Gottesgericht und kehrte wieder in die verwüstete Heimat zurück. Die Spannung zum Judentum jedoch blieb und hat sich in der Folgezeit verschärft.

Nach dem Tode des Jakobus übernahm ein Vetter Jesu, Simon bar Klopas, die Leitung der Jerusalemer Gemeinde und gesicherte so den Zusammenhang mit dem Ursprung. Das Prinzip der Erblichkeit räumte den Verwandten Jesu eine führende Rolle ein, vermochte jedoch nicht, die Gefahren zu bannen. Auseinanderstrebende Richtungen synkretistischer Art spalteten bald das Judenchristentum. Derartige heterodoxe Gruppen bildeten sich vor allem im Ostjordanland, wo unter der Bezeichnung Ebioniten, d.h. Arme, gesetzestreue Gläubige Jesus als einfachen Propheten anerkannten, oder die sog. Elkesaiten auf eigene Offenbarungen ihres Gründers setzten. In den Taufsekten, vor allem bei den Mandäern, spielte man Johannes den Täufer gegen den Lüg­ner Jesus aus und entfernte sich so gleicher weise von Juden wie Christus-Gläubigen. Mit guten Gründen hat man darauf verwiesen, dass in diesem Schmelztiegel religiöser Strömungen die Wurzel des Gnostizismus liege.

Für das Judenchristentum verlor Jerusalem endgültig seine Bedeutung, als im Zuge der Unterdrückung des Bar-Kochba-Aufstandes (132-135) die Stadt zu einer römischen Kolonie wurde. Unter Todesstrafe war den Juden der Aufenthalt in Aelia Capitolina verboten, nicht aber Gläubigen aus dem Heidentum, die dort alsbald eine neue Gemeinde gründeten. Weggeschoben in das Land jenseits des Jordans entfalteten die Judenchristen durchaus noch missionarische Aktivität, wie der um 140 entstandene Dialog zwischen Jason und Papiskos über Christus zeigt; aber der fehlende Kontakt zu heidenchristlichen Gemeinden verschärfte trotz Anklängen in den um 170 entstandenen Kerygmata des Petrus die Isolation, bis ihre sektiererischen Reste sich auflösten oder in neue Strömungen, etwa den Manichäismus, hineinflossen.

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